«Großmutter ist vor wenigen Stunden verstorben. In Frieden und ohne zu leiden, Gott sei Dank!»
So lautete mehr oder minder die knappe Mitteilung, die Zora Galvani auf dem Anrufbeantworter hörte, als sie in der Früh nach einer durch und durch freudigen Nacht nach Hause kam. Trotz ihrer Verwirrung konnte Zora Galvani ein lautes Lachen nicht unterdrücken, als sie «in Frieden» hörte.
Zunächst nahm sie ein Bad, denn gewöhnlich regten der Schaum und die verdampften ätherischen öle ihre sonst mäßige Entscheidungsfreude an. Würde die Familie ihre Anwesenheit gebührend würdigen? War es angebracht, nach den vielen Jahren des Schweigens dorthin zu fahren? Sollte sie sofort hinfliegen oder lieber das Ganze sausen lassen?
Schließlich entschied sie sich für den Besuch.
Der Tragweite des Ereignisses entsprechend wählte Zora Galvani die Nachbildung des Kleids, das die Monroe in Blondinen bevorzugt trug. Dabei vergaß sie nicht die engen langen Handschuhe und den gemusterten Schal aus Naturseide, passend zu den grünen Stöckelschuhen. Nach einer kurzen überlegung legte sie ein moderates Make-up auf, sparte dennoch nicht mit Klunkern, griff eine der blonden Perücken, zog den schwarzen Latexmantel an und verließ rasch das Apartment.
Zora Galvani nahm den ersten Flug nach Sevilla und dann ein Taxi zu dem Dorf, in dem sie dreiundzwanzig Jahre zuvor das Licht der Welt erblickt hatte, zu dem Ort, in dem sie ihre Unschuld verloren hatte, bevor sie begriff, dass es so etwas überhaupt gab. So früh wie möglich ging sie von zu Hause fort, noch blutjung, denn die chronische Intoleranz war nicht einen Tag länger zu ertragen. Sie hatte sich geschworen, nie im Leben in dieses Hüttendorf zurückzukehren. Angekommen in Madrid befriedigte sie ihre Neugier, ließ ihrer Sinnlichkeit freien Lauf, entdeckte ihre intimen Wünsche, machte, was ihr in den Sinn kam, und breitete ihre noch empfindlichen Flügel aus. Diese Gleitflüge in der Freiheit wurden später zu ihrer Lieblingsbeschäftigung.
Gleich nachdem sie den Fuß über die familiäre Schwelle gesetzt hatte, registrierte Zora Galvani mit Empörung, dass der Publikumsandrang größer war als damals beim Tod ihrer Mutter. Sie begriff, dass es ein grober Fehler war, zu Großmutters Begräbnis erschienen zu sein. Eine der Tanten sprang, als sie Zora bemerkte, aus dem Schaukelstuhl auf, konnte ihr Entsetzen nicht verbergen und wandte sich demonstrativ ab. Eine andere, erstarrt wie eine Reiterstatue, musterte Zoras Kleidung mit Verachtung und einer Geste des Ekels. Onkel, Vettern, Kusinen, andere Verwandte, Trauerzaungäste und gewöhnliche Klageweiber, überrascht von dem unerwarteten Besuch, zeigten missfallende Mienen, stellten ihr bösartiges Lächeln zur Schau, tuschelten Gemeinheiten, und jemand riskierte sogar ein paar obszöne Gedanken. Es war allen klar, dass die Stimmung stickig und unerträglich war. Zora Galvani war auch klar, dass sie in den Augen dieser provinziellen Meute, in ihrer dreckigen Phantasie, in ihren rückständigen Hirnen eine Art Außerirdische, ein karnevalistischer Zombie war und dass sie auch dann nicht mehr Erfolg haben würde, wenn sie einen Nadelstreifenanzug mit schwarzer Krawatte angezogen hätte. Für diese Leute, auch für ihre Familie, würde sie nie das Passende anhaben, nie würde sie bekleidet sein wie es sich ziemt.
Zora Galvani holte tief Luft. Mit sicheren Schritten, übertriebener Würde und rasselnden Armbändern bahnte sie sich einen Weg durch die Ansammlung kleinwüchsiger Menschen hin zum Aufbahrungszimmer. Unerwartet übertönte die herrische Stimme einer Schwester der Toten die Grabesstille: «Bleib wo du bist, keinen Schritt näher. Musstest du uns auch das noch antun? Eine Schande ist das für die ganze Familie. Weshalb erniedrigst du uns so? Du machst uns zur Zielscheibe der Nachbarn, des ganzen Dorfes. Du machst dein eigen Blut lächerlich. Unsere Familie in den Dreck zu ziehen. Du Ungeheuer, du herzloses Nichts. Du Monster!»
Unbeirrt in ihrem Vorhaben ignorierte Zora die Anschuldigungen der alten Frau und beschleunigte ihre Schritte.
Vier dicke lange Kerzen, am Kopf- und Fußende des Sarges platziert, gaben ein spartanisches und langweiliges Licht. Im Grunde nichts Besonderes, dachte Zora Galvani, eine alltägliche Inszenierung, fast trivial, mit vielen blütenreichen Kränzen und einem penetranten Geruch nach Chrysanthemen, Kölnisch Wasser und Urin.
Zora Galvani ging langsam auf den Leichnam zu, zog aus ihrer Handtasche den kleinen goldgerahmten Spiegel und hielt ihn der Toten vor die gepuderte Nase. Eindeutig: Sie war tot!
Obwohl sie wusste, dass die Augen der Toten für immer und ewig geschlossen bleiben würden, befürchtete sie dennoch, «die Alte» könnte ihr einen letzten Blick verpassen, der selbstverständlich streng, bohrend und voller Hass sein würde. Zora lief es eiskalt über den Rücken.
Ein Gesamtkunstwerk der Peinlichkeit, das jeder Beschreibung spottete, breitete sich vor ihren Augen aus: Das Rouge auf der Wangenpartie war zu aufdringlich, das Grünblau um die Augen herum von einer marmorähnlichen Konsistenz und die Wimpern länger als ihre eigenen. Sie hatten die Oma mit einer schwarzen Mantille geschmückt, die sie nur einmal im Jahr anlegte, und zwar am Gründonnerstag. Als ob das nicht genug wäre, hatten sie versucht, die schlechte Qualität der Perücke mit roten Nelken (jetzt blass und verwelkt) zu tarnen.
Die Arme der Toten ruhten auf der voluminösen Brust in der traditionellen Haltung, und die Hände, etwas aschgräulich, umklammerten fest und gierig den kostbaren Rosenkranz aus Aquamarinen. Ringe von unschätzbarem Wert (Smaragde, Brillanten, Rubine, Opale, Perlen, Topase, Saphire) drückten sich in ihre mit langen und roten Nägeln übermäßig großen Finger. Angeekelt hob Zora Galvani die rechte Hand einige Zentimeter hoch, wodurch die Finger der linken Hand sichtbar wurden, die voll waren von noch kostbareren Ringen. Der am kleinen Finger, einsam, zeigte provokativ seine ganze Pracht. Jene Preziose hatte Zoras Mutter gehört: ein Geschenk eines dankbaren Liebhabers nach einer wilden Liebesnacht. Als die Großmutter von der «unfrommen Verbindung» erfuhr, verbot sie ihrer Tochter, «diesen unverschämten Hurensohn, diesen skrupellosen Abartigen» wiederzusehen und scheute keine Anstrengungen, nicht einmal körperliche Züchtigung, um ihr ihren Willen aufzudrängen. Natürlich eignete sie sich den Ring an als Entschädigung für den der Familie zugefügten Ehrverlust und auch als Ausgleich für die Einbuße der Jungfräulichkeit ihrer Tochter.
Der erste Versuch von Zora Galvani, den Ring von dem geschwollenen kleinen Finger zu ziehen, misslang kläglich. Der Ring wollte nicht nachgeben. Ein zweiter Versuch mit mehr Kraft und Entschlossenheit wollte auch nicht richtig klappen. Verzweifelt und mit Schweiß auf der Stirn wagte sie sich noch einmal dran, diesmal mit Spucke. Ein ekelhaftes Gefühl übermannte sie. Der Ring jedoch regte sich nicht. Als sie nach einer Weile die Selbstbeherrschung wiedergewann, probierte sie es mit Gesichtscreme … vergeblich. Zora atmete tief. Sie ahnte, dass sie sich in einer aussichtslosen Situation befand. In ihrer Verwirrung fiel ihr die Gleitcreme ein, Dauermieterin ihrer Handtasche, mit deren Hilfe sie schon andere noch diffizilere Verengungen gemeistert hatte. Zora schmierte Finger und Ring unermüdlich ein, freute sich jedoch zu früh auf den Erfolg. Das Endergebnis war klebrig und frustrierend. Das Kleinod blieb unbeeindruckt auf dem nunmehr deformierten Finger stecken. Zora wusste sich nicht zu helfen und nutzte die unfreiwillige Pause, um sich den «unbeweglichen Fleischberg» anzuschauen. Wie fremd und gleichzeitig vertraut ihr dieser Körper war. Zora fragte sich, was sie eigentlich für eine Beziehung zu ihrer Großmutter gehabt hatte. Verachtete sie sie? Konnte sie sie hassen? Zora erinnerte sich plötzlich an die unsägliche Verbitterung der alten Frau, an ihre unzähligen Sprichwörter, an ihren autoritären Charakter, an ihre militärischen Befehle, an ihre Demütigungen und Lügen, an ihre Prügel. Zora erinnerte sich an den Hass der Großmutter, an die Verachtung. Sie erinnerte sich, wie die Alte sie ohne einen ersichtlichen Grund schreiend beschimpfte, er sei ein Bastard, die Fehlgeburt eines Schweinehundes und einer schamlosen Nutte.
Einen Augenblick lang wollte Zora Galvani einfach aufgeben und zurückkehren nach Madrid … heim.
Dass niemand in der Küche war, deutete sie später als einen unvermeidbaren und fatalen Zufall. Sie fand gleich, was sie suchte und ging unbemerkt zurück in das Halbdunkelzimmer. Der gleiche unangenehm süßliche Geruch traf ihre Nase, diesmal jedoch eindringlicher. Trotz des schwachen Lichtes sprang ihr eine Steckdose hinter dem Totenbett in die Augen. Die plötzlichen Geräusche des kleinen Motors erschreckten sie. Sie erstarrte. Einen Augenblick lang. Dann atmete sie tief und bückte sich über die Tote. Zufällige Spritzer von breiiger Beschaffenheit trafen ihr Kleid in Taillenhöhe. An dem Motorgeräusch, jetzt anders als vorher, merkte Zora, dass sie den Knochen getroffen hatte. Das Quietschen schien ewig zu dauern. Sie nahm eine eklige Ausdünstung wahr, die sie an eine Zahnarztpraxis erinnerte. Zora Galvani atmete tief durch und zog schließlich den Ring von dem amputierten Finger. Mit dem Schal befreite sie ihn vom Blut, steckte ihn auf den Ringfinger ihrer linken Hand und hielt ihn einen Augenblick unter eine der Kerzen. Dann puderte sie die Nase, tupfte sich einige Tröpfchen Chanel 5 hinter die Ohren und lächelte zufrieden.
Ohne sich zu verabschieden, nahm Zora Galvani den nächsten Flug zurück nach Madrid. Ohnehin hatte sie nicht vor, an der Trauerzeremonie teilzunehmen, denn Begräbnisse waren noch nie ihr Fall gewesen.
© Gregorio Ortega Coto 2005